Fachinformationen - Influenza Therapie im Pandemiefall: Neuraminidasehemmer


Neuraminidase-Hemmer: nützlich oder entbehrlich?

Krankheitsausbrüche durch neuartige Influenzaviren über Ländergrenzen und Kontinente hinweg sind jederzeit möglich. Man spricht in diesem Fall von Pandemie. Zuletzt geschah dies im Jahr 2009/2010 beim Ausbruch der meist mild verlaufenden Neuen Influenza („Schweinegrippe“) durch das Influenzavirus A/California/7/2009 (H1N1). Es lässt sich weder vorhersagen, wann eine Pandemie auftritt, noch wie gefährlich der jeweilige Erreger sein wird. Daher ist das „Vorbereitet sein“ auf solche Ereignisse für das Gesundheitswesen von großer Bedeutung. Naturgemäß stehen am Anfang einer Pandemie noch keine Impfstoffe zur Verfügung, da der Erreger noch nicht lange genug bekannt ist und der Prozess der Impfstoffentwicklung und -produktion erst in Gang gesetzt werden muss. Besonders in der Frühphase einer Pandemie wären daher wirksame Medikamente hilfreich, um Todesfälle zu vermeiden und die Krankheitslast der Bevölkerung zu verringern.

Bildquelle: Simona Himmel

Neuraminidase-Hemmer
Vielversprechend für den frühen Einsatz während einer beginnenden Pandemie waren Medikamente aus der Klasse der Neuraminidase-Hemmer. Diese Medikamente behindern den Ablösevorgang neu gebildeter Viren von der Oberfläche der Wirtszelle. Die in der Zelle gebildeten Viren werden mit Hilfe des Enzyms Neuraminidase von der Zelloberfläche „abgekoppelt“ und dadurch in die Lage versetzt andere Körperzellen zu befallen. Der Einsatz von Neuraminidase-Hemmern berhindert also die Verbreitung und dadurch auch indirekt die Vermehrung von Influenzaviren im Körper.

Bevorratung
Im Zuge der Vorbereitung auf den pandemischen Ernstfall waren im Jahr 2009 große Lagervorräte von Neuraminidase-Hemmern wie Tamiflu® (Wirkstoff: Oseltamivir) angelegt worden. Die Kosten für die Bevorratung innerhalb der Industrieländer betrugen etwa 1,5 Mrd. US-Dollar. Diese Politik basierte letztlich auf Empfehlungen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, USA. Dieser Einschätzung schlossen sich jedoch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA, vor Dezember 2009 noch EMEA genannt) sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an.

Zweifel
Erste Zweifel an dieser Bevorratungspolitik entstanden nach der glimpflich verlaufenen Schweinegrippepandemie. Rückblickend fiel auf, dass die Herstellerfirma die Zulassung des Wirkstoffs Oseltamivir im Jahr 1999 lediglich mit einer geringfügigen Verkürzung der Krankheitsdauer begründete. Demzufolge wäre Nutzen des Wirkstoffs zur Verhinderung von Komplikationen oder zur Unterbindung der Übertragung des Erregers fraglich gewesen. Trotzdem wurde das entsprechende Medikament für viele Millionen Euro eingekauft und bevorratet.

Kontroverse
Die optimistische Einschätzung des Wirkstoffs Oseltamivir stützte sich vor allem auf eine zusammenfassende Analyse mehrerer Studien, also eine Meta-Analyse (Kaiser 2003). Grundlage für die Meta-Analyse waren 3.564 Probanden aus zehn verschiedenen Studien. Der Einsatz von Oseltamivir bei Influenzapatienten sollte Komplikationen in den unteren Atemwegen um 34% und die Rate erforderlicher Krankenhauseinweisungen um 59% verringert haben. Die ursprünglichen Daten, auf die sich Kaiser in seiner Meta-Analyse bezog, waren jedoch nie veröffentlicht worden. Peter Doshi von der John Hopkins Universität in Baltimore, USA, und Tom Jefferson von der Cochrane Collaboration in Rom forderten vom Hersteller die Rohdaten der Studien, um bestehenden Diskrepanzen der Zulassungsbehörden in der Einschätzung der Wirksamkeit von Oseltamivir auf den Grund zu gehen. Der Hersteller lieferten jedoch keine vollständigen Datensätze. Die Zulassungsbehörden hingegen seien juristisch nicht berechtigt, die Datensätze an Dritte weiter zu geben. Interessanterweise bestünde wohl generell keine Möglichkeiten für die Öffentlichkeit, die zulassungsrelavanten Daten anzufordern, u.a. aus wettberbs- und datenschutzrechtlichen Gründen. Nach wie vor gilt, dass 60% der Daten zu Oseltamivir aus klinischen Phase III-Studien nie veröffentlicht worden sind. Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die sich nur auf bisher publizierte Ergebnisse beziehen, könnten daher fehlerhaft sein (reporting bias).

Aktuelle Einschätzung
Jefferson, Doshi und Kollegen veröffentlichten im Jahr 2012 eine aktuelle Meta-Analyse anhand der verfügbaren Daten. Die Autoren ließen auch bisher unveröffentlichte Daten, z.B. aus der Korrespondenz mit Zulassungsbehörden und den Herstellern der zwei Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir und Zanamivir in die Analyse einfließen. Studien, die nicht auflösbare Diskrepanzen aufwiesen, wurden von der endgültigen Auswertung ausgeschlossen. Es fand sich eine Verkürzung der mittleren Krankheitsdauer von 160 Stunden um 21 (12,9 bis 29,5) Stunden. Ein Effekt auf die Häufigkeit von Krankenhauseinweisungen ließ sich jedoch nicht ausmachen. Die Fragen, ob Neuraminidase-Hemmer einen Effekt auf die Komplikationsrate einer Grippe haben oder die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung der Influenzaviren verringern, ließen sich anhand der verfügbaren Daten nicht beantworten. Grippepatienten unter Oseltamivirbehandlung zeigten geringere Antikörperkonzentrationen im Blut. Da die Antikörperbestimmung auch in der Diagnostik eine Rolle spielen, ist es möglich, dass einige Patienten nachträglich (fälschlicherweise) von Studien ausgeschlossen wurden, da man aufgrund der niedrigen Werte annehmen musste, dass keine Grippe vorlag. Unklar ist auch, ob die verminderte Antikörperbildung unter Oseltamivir den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen könnte.

Fazit
Abschließend kann der Nutzen von Neuraminidase-Hemmern zur Behandlung der gewöhnlichen Grippe wie auch ihre Effektivität beim Einsatz im Pandemiefall noch nicht beurteilt werden. Nach den bisher veröffentlichten Daten ist lediglich von einer begrenzten Wirksamkeit mit einer Verkürzung der Krankheitsdauer um etwa einen Tag auszugehen.

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MG, 09.10.2018



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