Fachinformationen - Multiple Sklerose, Autoimmunkrankheit


Multiple Sklerose

Einführung
Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, bei der es zur Schädigung von Myelinscheiden der Nervenzellfortsätze in multiplen Hirnregionen kommt. Aufgrund der unterschiedlichen möglichen Lokalisationen der Entzündungsherde kann eine Vielzahl neurologischer Symptome auftreten (Compston 2002). Erstmanifestationen der Erkrankung finden am häufigsten zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr. Von der Erkrankung betroffen sind meist Personen, die weit entfernt vom Äquator leben (z.B. in Nord-Europa oder Kanada u.a.). Weltweit sind etwa 2,5 Millionen Erkrankungen, überwiegend bei Frauen, registriert.

Symptomatik
Beschwerden des ersten Krankheitsschubes einer Multiplen Sklerose bilden sich meist vollständig wieder zurück. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu weiteren akuten Schüben und zwischen den einzelnen Schüben zu einem Fortbestehen von Missempfindungen, Lähmungen, Gleichgewichts- und Sprechstörungen kommen.
Nicht selten finden sich Minderungen der Sehschärfe („milchiger Schleier“) und Beeinträchtigungen der Augenbewegung (internukleäre Ophthalmoplegie). Auch Sensibilitätsstörungen werden recht häufig beobachtet. Oft steht anfangs ein isoliertes Symptom im Vordergrund, das sich im meist vollständig wieder zurückbildet. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu weiteren akuten Schüben und zwischen den einzelnen Schüben zu einem Fortbestehen der Symptomatik kommen.
Zum Spektrum der Krankheitserscheinungen gehören u.a.:

Ursachen ungeklärt
Hinsichtlich der Entstehung einer Multiplen Sklerose existieren zahlreiche Vorstellungen, u.a. die Hypothese, dass Virusinfektionen die Erkrankung auslösen könnten. In Entwicklungsländern, in denen die Bevölkerung sehr vielen Viruserkrankungen ausgesetzt ist (u.a. Hepatitis B), kommt MS jedoch kaum vor. Daher wird der Zusammenhang mit Erregern diskutiert, die auch im Norden sehr verbreitet sind (Epstein-Barr-Virus). Z.B. könnte bei Personen, die erst im späteren Kindesalter mit diesen Viren konfrontiert werden, ein höheres Risiko für eine unpassende Körperabwehr bestehen ("Hygienehypothese"). Auch andere Ursachen sind nicht ausgeschlossen: Genetische Veranlagung, Lebensumstände oder chemische Stoffe, die in entwickelten Ländern Teil der Umwelt geworden sind.

Es konnten auch einige prädisponierende genetische Faktoren identifiziert werden

Nach heutigem Verständnis wird die Multiple Sklerose durch ein komplexes Zusammenspiel aus Veranlagung und Umwelteinflüssen bedingt (Giovannoni 2007). Grundlage hierfür ist bei genetischer Veranlagung möglicherweise ein Krankheitsprozess, der im frühen Kindesalter initiiert wird. Unter dem Einfluss äußerer Einflüsse könnte sich die Erkrankung schließlich manifestieren. Welche Einflussfaktoren hierfür verantwortlich sein könnten, ist noch Gegendstand wissenschaftlicher Untersuchungen, wahrscheinlich jedoch spielen auch unspezifische „Stressoren“ eine Rolle.

In Verbindung mit der Entwicklung einer MS wurden Infektionen durch verschiedene Krankheitserreger in Verbindung gebracht (Jankosky 2012), zum Beispiel:

Mögliche Rolle von Vitamin D
Innerhalb der multifaktoriellen Genese könnten auch eine verminderte Exposition mit Keimen („zuviel Hygiene“) während der Kindheit eine Rolle spielen. Ein Zusammenhang mit Sonnenbestrahlung und verminderten Risiken der MS ist belegt (Talat 2007). Die Anlage der Myelinscheiden der Nerven erfolgt gegen Ende der Schwangerschaft bis in den ersten Lebensmonaten. Denkbar wäre eine Störung der Anlagerung dieser Eiweiße an die Nerven bei einer Beeinträchtigung des Vitamin D Stoffwechsels, der lichtabhängig erfolgt. Die Myelinisierung der Nervenzellen findet in der frühen Kindheit, zwischen 24. Schwangerschaftswoche und den ersten 3 Monaten post partum statt. Die Ausreifung des Immunsystems erfolgt ebenfalls in frühem Lebensalter. Das unreife Immunsystem wird in dieser Phase mit ungefährlichen wie schädlichen Erergern sowie mit Autoantigenen des eigenen Körpers konfrontiert. Das Immunsystem „lernt“, welche Antigene bekämpft und welche toleriert werden müssen. Kommt es in dieser sensiblen Phase (multifaktoriell) zu Störung der Balance, könnte die Anfälligkeit für Autoimmunerkrankungen im späteren Leben erhöht sein. Im Gefüge der unterschiedlichen Einflussfaktoren könnte die durch Sonnenlicht induzierte körpereigene Bildung von Vitamin D relevant sein. In Ländern mit hoher Lichtexposition der Bevölkerung (im Kindesalter) findet sich die MS seltener als in nördlicheren Ländern („Nord-Süd-Gefälle“). Auch sind höhere Vitamin D -Serumspiegel mit einem selteneren Auftreten der Erkrankung in späteren Lebensjahren verbunden.

Auslösung durch Impfungen?
In mehreren Studien der vergangenen Jahre war ein möglicher Zusammenhang zwischen
Impfung mit gentechnisch hergestelltem Hepatitis B (HB)-Impfstoff und Multipler Sklerose f(MS) aufgezeigt worden. Nachdem die Ergebnisse einer Studie publiziert wurden, die ein dreifach häufigeres Auftreten von MS innerhalb von 3 Jahren nach HB-Impfung (prospektive Fall-Kontroll-Studie: 163 Patienten, 1.604 Kontrollpersonen) beschrieb (Hernán 2004), wurden erneut Sorgen laut, ob der HB-Impfstoff das Entstehen von Autoimmunerkrankungen begünstigen könne. Auf hypothetischer Basis wurde auch ein möglicher Einfluss winziger Verunreinigungen des Impfantigens mit Hepatitis B Virus-Polymerase als Auslöser für eine Multiple Sklerose beschrieben (Faure 2005). Die Virus-Polymerase könne zu einer Immunreaktion des Körpers führen, die sich nicht nur gegen das Fremdantigen, sondern auch gegen körpereigene Strukturen in der Myelinschicht der Nerven richte (Kreuzimmunogenität, „molekulares Mimikry“). Aufgrund methodischer Einschränkungen (Zusammensetzung der Kontrollgruppen, Falldefinition, Überprüfung der Impfanamnese, begrenzte Teststärke [statistische Power]) sind die aus dieser und anderen abgeleiteten Schlussfolgerungen nicht unwidersprochen geblieben. Die folgenden Diskussionen in der wissenschaftlichen Community führten zu einer erheblichen Verunsicherung der Bevölkerung hinsichtlich der empfohlenen HB-Schutzimpfung im Kindesalter, ungeachtet einer hohen Zahl an weltweiten Todesfällen durch Hepatitis B. Da die Hepatitis B-Immunisierung inzwischen eine etablierte Impfung im frühen Kindesalter darstellt, sind vor allem mögliche Zusammenhänge mit der Multiplen Sklerose im Kindesalter relevant.

Klärung durch weitere Studien
In Frankreich waren aufgrund der bei den Eltern bestehenden Unsicherheiten im Jahr 2002 noch nicht einmal 50% der Kinder und Jugendlichen gegen HB geimpft worden. Multiple Sklerose ist bei Kindern selten. Nur etwa 3 bis 4% der Patienten erkrankten im Kindesalter. Eine neuere Fall-Kontroll-Studie, die Ende 2007 veröffentlicht wurde, untersuchte bei 143 erkrankten Kindern und 1.122 Kontrollpersonen, ob das Auftreten einer ersten Episode der Multiplen Sklerose im Kindesalter im Zusammenhang mit den durchgeführten HB-Impfungen stand (Mikaeloff 2007 [a]). Grundlage für die Patientengruppe war eine national repräsentative Fallkohorte von französischen Kindern mit Multipler Sklerose. Es flossen keine Patienten in die Studie ein, die nicht nach Erstmanifestation mindestens einen weiteren akuten Schub der Erkrankung durchgemacht hatten (Goldstandard im Rahmen der Diagnosesicherung). Als Kontrollgruppe wurde eine repräsentative Gruppe von Kindern mit der gleichen Alters- und Geschlechtsverteilung sowie der gleichen geographischen Herkunft ausgewählt. In der Auswertung der Untersuchung fand sich keine erhöhte Rate von Multipler Sklerose bei Geimpften im Vergleich zur Gruppe der Ungeimpften. In einer weiteren großen Fall-Kontroll-Studie, durchgeführt durch die Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta, USA, wurde der Effekt mehrerer Impfstoffe auf das Multiple Sklerose Risiko untersucht. Neben Hepatitis B wurden auch Tetanus-, Influenza-, Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen untersucht. Als Gesamtergebnis dieser Studie fand sich jedoch für keine der genannten Impfungen und zu keinem Zeitpunkt ein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Multipler Sklerose.

Risiko einer Schubauslösung durch Impfungen?
Oft besteht bei Patienten und Ärzte die Sorge, dass Impfungen einen akuten Schub der Erkrankung auslösen könnten. Generell gilt jedoch, dass auch hinsichtlich eines möglichen Zusammenhangs zwischen einer Schubauslösung und Impfungen Metaanalysen und neuere Studien eher Entwarnung geben (Rutschmann 2002, Mikaeloff 2007[b], Löbermann 2010). Für eine Reihe von Impfungen (Tetanus-, Hepatitis B, BCG-, und Varizella-Impfungen) fand sich keine Evidenz für ein erhöhtes Risiko, nach der jeweiligen Impfung einen MS-Rückfall zu erleiden, für die Influenza-Impfung zeigen die Daten sogar eine klare Evidenz gegen ein erhöhtes Risiko. Es existieren zunehmend epidemiologische Hinweise darauf, dass Impfungen nicht mit einem (gegenüber dem normalen Alltagsleben) erhöhten Risiko für MS einhergehen. Aus prinzipiellen Gründen lassen sich unspezifische Effekte allerdings nicht auszuschließen. Grundsätzlich gilt: Jede Infektion ist eine Stimulation des Immunsystems. Dies gilt in abgeschwächter Form auch für jede Impfung. Jede Stimulation des Immunsystems beinhaltet auch ein gewisses Risiko für die Auslösung eines akuten Schubes. Fazit: Empfohlen wird eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung. Dazu gehört auch einmal der Verzicht auf eine Impfung, sofern keine klare Indikation besteht. Die gleiche Abwägung gilt für die Wahl des Urlaubsortes. Oft stehen neben Reisezielen mit erhöhtem Impfbedarf (z. B. Gelbfieber) und höherem Infektionsrisiko (z. B. Malaria und Denguefieber) auch unproblematischere Alternativen zur Auswahl.
 
Reisen und MS
Stress bringt den natürlichen Rhythmus der Immunreaktionen durcheinander (Buljevac 2003) und wirkt sich daher negativ auf den Krankheitsverlauf aus. Erholsames und genussvolles Reisen kann dagegen die Regulierung des Immunsystems begünstigen. Riskant sind zu starke körperliche oder psychische Belastungen oder auch Infektionen, die einen neuen Schub der Erkrankung auslösen können. Es bestehen daher prinzipiell keine Einschränkungen der Reisefähigkeit, wenn die Vorbereitung und Organisation so erfolgen, dass eine körperliche und psychische Kräftigung sehr wahrscheinlich werden. Während eines akuten Schubes sollte jedoch keine größere Reise unternommen werden. Bestehende Einschränkungen müssen natürlich bei der Reiseplanung berücksichtigt werden. Das Mitführen von Hilfsmitteln wie Stützen, Gehhilfen oder Rollstuhl kann sinnvoll sein, da nach Phasen erhöhter Aktivität auch Phasen leichterer Erschöpfbarkeit auftreten. Patientinnen und Patienten mit Blasenentleerungsstörungen sollten sich vor der Reise bei Frauenärztin oder Urologen ausführlich über das Katheterisieren und Mitnahme erforderlicher Hilfsmittel informieren.  Bei hohen Umgebungstemperaturen oder auch nach einem heißen Bad kann es zu einer Zunahme der Beschwerden kommen (so genanntes Uhthoff-Phänomen).  Dabei handelt es sich nicht um einen akuten Schub der Erkrankung. Tropische Temperaturen im Reiseland können auch zu einer Inaktivierung von Medikamenten führen. Die zur Vorbeugung akuter Schübe eingesetzten Medikamente wie Beta-Interferon und Glatiramerazetat sind temperaturempfindlich und sollten nicht über 25°C gelagert werden. Bei Reisen in wärmere Länder ist daher auf eine geschlossene Kühlkette zu achten.

Fazit
Die Diagnose Multiple Sklerose schließt häufiges und ausgedehntes Reisen nicht aus. Die Reisepläne sollten jedoch rechtzeitig vorher mit dem behandelnden Arzt zur Feststellung der Reisefähigkeit und mit einem Reisemediziner zur Einschätzung möglicher Gesundheitsbelastungen am Zielort besprochen werden.

Literatur

Links

Weiter

 

MG, HEF, 25.05.2018



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