Fachinformationen - Krankheit: Grisi Siknis


Grisi Siknis

Geschichte
In der Región Autónoma del Atlántico Norte (RAAN) im Nordosten Nicaraguas lebt das indigene Volk der Miskitos. Die Miskitos haben ihren Ursprung in einer Mischung europäischer, afrikanischer, chinesischer und indianischer Ethnien. Etwa 95.000 der Miskitos finden sich in Nicaragua (besonders im Jinotega Department im Westen der RAAN), weitere 25.000 in Honduras. Der Norden Nicaraguas wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder von Naturkatastrophen, vor allem durch Hurrikane, heimgesucht. Die Miskitos leben unter sehr einfachen Bedingungen unterhalb der nicaraguanischen Armutsgrenze. Sie bewirtschaften kleine Felder, halten Tiere und betreiben Fischfang. Periodisch tritt bei Ernteausfällen Nahrungsmittelknappheit auf. Einige Autoren beschreiben für die Miskitos streng patriarchalische Sozialstrukturen. Vergewaltigungen junger Frauen durch Verwandte und Nachbarn seien nicht selten und würden meist totgeschwiegen. Andererseits wird die „Matrilocal residence“, also das Verbleiben junger Ehepaare im Elternhaus der Frau, als Kernelement der Miskito-Kultur genannt. Die Religion der Miskitos kann als eine Mischung aus Protestantismus und indianischer Spiritualität verstanden werden. In den 1980er Jahren gerieten Miskitos zwischen die Fronten der militärischen Auseinandersetzung zwischen den linksgerichteten Sandinisten und den von den USA unterstützten Contra-Rebellen. Stets mussten die Miskitos um ihren autonomen Status und ihre Selbstverwaltung ringen. Der spanisch-stämmigen Mehrheit der Bevölkerung (inkl. der Regierung) Nicaraguas wird oft Misstrauen entgegengebracht. Die Spanier wurden in der Vergangenheit häufig als Eindringlinge und Kolonisatoren erlebt.
 
Grisi Siknis
Im Zusammenhang mit der Miskito-Kultur wird ein Krankheitsbild beobachtet, das aus der Abwandlung des englischen „crazy sickness“ als „Grisi Siknis“ (in der Miskito-Sprache als „Pauka Prukan“) bezeichnet wird und epidemische Ausmaße annehmen kann. Der letzte große Ausbruch der Grisi Siknis fand zwischen Dezember 2003 und März 2004 statt. Entlang des mittleren und oberen Coco Rivers waren zahlreiche sehr isoliert liegende Siedlungen, aber auch zwei größere Städte der Region betroffen, darunter auch Wiwili, die Partnerstadt Freiburgs. Mehr als 150 Personen zeigten Krankheitssymptome. Auch im März 2009 wurden entlang des Rio Coco mindestens 34 Fälle registriert. Typischerweise betroffen waren weibliche Teenager und junge Frauen. Anfallsartig tritt eine unnatürlich stark verkrampfte Haltung des Körpers auf (Katatonie), die sich abwechselt mit agitiertem Verhalten. Der katatone Zustand kann Stunden bis mehrere Tage anhalten. Während der agitierten Phase laufen die Patienten häufig schreiend und in Panik davon. Sie erkennen niemanden und schlagen um sich. Manchmal werden Stöcke oder Macheten ergriffen, um sich gegen die imaginäre Bedrohung zu verteidigen. Die Gefahr für andere ist eher gering, die Patienten selber sind hingegen durch Stürze, Verletzungen durch Zweige oder durch Ertrinken gefährdet. Während des Anfalls leiden die Betroffenen häufig unter starken Kopfschmerzen und Halluzinationen. In den Wahnvorstellungen findet sich oft eine Vermischung von Gewalt und Sexualität (z.B. „Vergewaltigung durch Teufel“). Auch tritt die Erkrankung gelegentlich bei jungen Frauen auf, die beabsichtigen, einen Mann mit Hilfe eines „Liebeszaubers“ zu beeinflussen.
 

Bildquelle: www.laprensa.com.ni
 
"Culturally bound Syndromes"
Nach heutigem Verständnis kann man die Grisi Siknis in die Gruppe der „Culturally bound Syndromes“ einordnen. Hierbei handelt es sich um psychische Störungen, die örtlich und zeitlich gehäuft innerhalb eines bestimmten Kulturkreises auftreten. Ein breites Spektrum dieser Syndrome ist bekannt. Die Manifestation der Erkrankung kann je nach kulturellem Rahmen außerordentlich stark variieren. Bei aller Unterschiedlichkeit finden sich jedoch auch Gemeinsamkeiten wie Angstgefühle, anamnestische Störungen, Gefühle des Ausgeliefertseins, sozialer Rückzug, Verhaltensauffälligkeiten und Auffälligkeiten der Psychophysiologie. Somatische Ursachen oder ein kausales infektiöses Agens ließen sich nicht identifizieren. Die „Culturally bound Syndromes“ werden in einem speziellen soziologischen Kontext beobachtet und treten sporadisch und epidemisch auf. Beispiele für „Culturally bound Syndromes“:
Sozialer Stress innerhalb einer Gruppe scheint das Auftreten dissoziativer Störungen und damit auch „Culturally bound Syndromes“ zu begünstigen. Die Manifestation der Erkrankung kann als individueller, aber mit Normen der jeweiligen Gesellschaft scheinbar konform gehender, Ausdruck des Unglücklichseins  verstanden werden. In der psychiatrischen Nomenklatur könnte man dies als kulturell normierte psychomotorisch symbolisierenden Ersatzhandlung zur Kanalisierung ungerichteter Triebenergie beschreiben („Ventilfunktion“). Die Triebenergie, die der Manifestation der Grisi Siknis zugrunde liegt, könnte aus einem Zwiespalt herrühren, dem die jungen Mädchen in der stark religiös geprägten Miskito-Kultur ausgesetzt sind, nämlich zum einen, einen potenziellen Ehemann sexuell anzuziehen und zum anderen, ihren sozialen Status („Reinheit“) und ihre Sicherheit zu bewahren.
 
Behandlung
Therapieversuche der Grisi Siknis mit Medikamenten seien nach bisherigen Erkenntnissen ohne Erfolg geblieben. Dies gelte sowohl für den Einsatz von Antikonvulsiva wie auch für die Gabe von Antidepressiva. Die Miskitos gehen auf interessante Weise mit dem Leiden um. Kommt es zum Anfall, reagiert die Dorfbevölkerung umgehend. Läuft eine Patientin in Trance davon, so folgen ihr zahlreiche Männer, um sie aufzuhalten. Die Männer halten sie fest. Dabei bleibt unklar, ob hierdurch eher Ängste verstärkt werden oder ob der Frau die Sicherheit vermittelt wird, dass sich die Gemeinschaft um sie kümmert. Zweifellos von großer Bedeutung sind die „Sukyas“ oder „Ukuly“, die gleichermaßen als protestantische Laienpriester, Schamanen und Ärzte agieren. Die „Sukyas“ werden hinzugerufen und praktizieren die einzig bekannte erfolgreiche Therapie der Grisi Siknis. Die durchgeführten Rituale wirken in der Regel effektiv als eine Art „Gegenzauber“, der sich in Übereinstimmung mit den sozialen Bedürfnissen der Miskitokultur befindet. Es handelt sich hierbei um - dem Patienten real erscheinende – „Gegenillusionen“. Es werden Rituale praktiziert, bei denen u.a. Heilkräuter angewendet werden. Durch diese Maßnahmen wird ein kulturelles Equilibrium hergestellt, in dem Sinne, dass der in seinem Verhalten abweichende Jugendliche durch einen von der Gemeinschaft beauftragten Heiler wieder in die Gruppe, die ihm Verständnis und Wohlwollen entgegenbringt, aufgenommen wird. Nach der Heilung ist der Jugendliche vollständig rehabilitiert; er gilt als „rein“ und muss mit keinerlei Stigmatisierung rechnen.
 

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Fazit
Formen soziogener Erkrankungen wie die „Grisi Siknis“ sind eine Spielart von Erscheinungen, die in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Kulturen oder Subkulturen beobachtet werden. Aufgrund der 1895 von Gustave Le Bon beschriebenen Phänomene, bei denen soziale Gruppen eine hypnotische Wirkung auf ihre Mitglieder ausüben (sogenannte Ansteckungstheorie), entwickelte sich ein ganzer Forschungszweig: die Massenpsychologie.
 
Die Miskitos haben aber anders als die westlichen Kulturen im Umgang "Culturally bound syndromes", wie der Magersucht, einen vergleichsweise erfolgreichen Ansatz zum Umgang mit der Grisi Siknis gefunden. Die Betroffenen werden nicht ausgegrenzt, sondern innerhalb der Gemeinschaft „behandelt“ und können, nachdem der Zustand überwunden wurde, ohne Stigmatisierung und sozial integriert weiterleben.
 
Literatur

Links

 

MG, 10.06.2009



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