Fachinformationen - Varianz


Gute Varianz, schlechte Varianz

 

Ob etwas als als "schlecht" oder "gut" empfunden wird, hängt davon ab, ob es dem Betrachter nutzt oder schadet oder von dem Standpunkt, den ein Betrachter gerade einnimmt. Das gilt auch für die statistische Abweichung von Ereignissen von einem Mittel- oder Erwartungswert: der Varianz.

Wenn beim Hämmern die Schläge häufig neben dem Nagel landen, ist das für die Finger "schlecht".

Werden dagegen die Blüten eines Kirschbaums im Frühlingswind durcheinandergewirbelt, lösen gerade die Abweichungen von der Vorhersagbarkeit die Empfindung "schön" aus.

"Schlechte Varianz“

Wir stehen am Montagmorgen um 7:45 an der Haltestelle und warten auf den Bus. Er sollte exakt um Viertel vor acht kommen. Tut er aber leider nicht! Schließlich kommt er - mit 15 Minuten Verspätung.

Am nächsten Tag, es ist 7:30, wir haben gerade das Haus verlassen und sehen den Bus quasi am Horizont an uns vorbei fahren. Zu früh, ganze 15 Minuten. Bei der nächsten Gelegenheit stellen wir den Busfahrer zur Rede. „Im Schnitt“ sei aber alles in Ordnung, erfahren wir. Am ersten Tag plus 15 Minuten Abstand (zu spät) und am nächsten Tag minus 15 Minuten Abstand (zu früh) zur planmäßigen Abfahrtszeit. Der Mittelwert berechnet sich dann folgendermaßen: 15 Minuten plus (-15) Minuten Abweichung geteilt durch zwei gleich 0. Im Durchschnitt liegt die Abweichung (Unpünktlichkeit) nach dieser Rechnung bei sensationellen 0 Minuten. Trotz dieser scheinbar exzellenten Pünktlichkeit sind die Fahrgäste unzufrieden. Um die Zufriedenheit der Fahrgäste wieder herzustellen, gibt es hier nur eine Möglichkeit: "Die Varianz muss verringert werden".

Bei zwei Stichproben mit je einer Verspätung von +15 Minuten (zu spät) und einer Verspätung von – 15 Minuten (zu früh), liegt die Varianz in unserem Bus-Beispiel bei erschreckenden 30 Minuten.

In den meisten Fällen, wo es um geordnete Abläufe geht, ist eine große Varianz ungünstig.

Wir wollen kein Auto, das bei gleicher Geschwindigkeit und gleichen Bedingungen mal einen Bremsweg von 25 m und mal einen Bremsweg von 100 m hat.

Auch ein Jetpilot, der auf einem Flugzeugträger Dienst tut, hat ein großes Interesse daran, dass „Take off“ und Landung jeweils mit möglichst geringer Varianz erfolgen. Die Länge der Start- und Landebahn muss reichen, braucht er auch nur 30 cm mehr, riskiert er sein Leben.

Ein Ästhetischer Chirurg könnte schlecht damit werben, dass bei jedem zweiten Eingriff das Ergebnis exorbitant schön ausfällt, aber bei den übrigen Patienten der Eingriff überhaupt nicht gelingt.

Ein Arbeitgeber wird in der Regel keinen Angestellten haben wollen, der gelegentlich und ohne Absprache einmal einen Tag gar nicht kommt, selbst dann nicht, wenn er gelegentlich und ohne Absprache 6 Tage am Stück arbeitet.

In weiten Teilen sind wir in dem Maße erfolgreich, wie es uns gelingt die Varianzen unseres Tuns zu verringern. Weltunternehmen wie General Electric, Motorola oder Honeywell haben umfangreiche, zig Millionen Dollar teure Programme zur Qualitätssicherung (Six-Sigma-Initiative) etabliert, in denen es einzig darum ging Varianzen zu verringern, mit dem Ziel, die Häufigkeit von Fehlern, die das Unternehmen Geld und die Kunden Nerven kosten, in Bereiche von 0,0003% „herunter zu drücken“.

Auch in der Biologie sind zu große Varianzen ungünstig und zum Teil mit dem Leben nicht vereinbar. Ein Affe, der sich von Ast zu Ast schwingt, hätte wenig Überlebenschancen, wenn er immer abwechselnd 30 cm rechts und dann wieder 30 cm links am Ziel vorbei greift, unabhängig davon, dass seine „Griffsicherheit“ im statistischen Mittel hervorragend wäre.

„Gute Varianz“

Der andere Seite der Medaille ist die großartige Varianz lebender Systeme.

Ein Ökosystem mit einer großen Artenvielfalt (Biodiversität) ist stabiler als ein System mit einem nur schmalen Spektrum an Arten. Dies zeigt sich in den großen Monokulturen unserer modernen Landwirtschaft, in der Pestizideinsatz zwangsläufig zu einer Verringerung des Tier- und Pflanzenartenreichtums führte. (West 2006)

Alle lebenden Systeme oder deren Funktionskreise (wie z.B. die Blutgerinnung) werden gleichzeitig von vielen Steuerungssystemen gleichzeitig und chaotisch gesteuert, so dass der Ausfall eines Systems bei Belastung noch nicht den Zusammenbruch des gesamten Organismus bedeutet.

Die chaotische Steuerung lebender Systeme (z.B. der Hirnaktivität über aus sich selbst bezogenes Re-Entry) kann mit einer Gruppe anfangs wirr agierender Jazzmusiker verglichen werden, die sich allmählich auf einen gemeinsamen Rhythmus einschwingen, bei dem immer einer wieder ein Solo intonieren kann und die Dynamik wechselt, je nachdem wie das Publikum reagiert oder die Musiker eignee kreative Ideen entwickeln.

Ein Beispiel für positive „Varianz“ ist das Verhalten des Herzens. Etwa sechs rhythmische Regelkreise steuern in eigendynamischer und ziemlich chaotischer Weise die Folge des Herzschlages. Jede Herzzelle hat Ihren Rhythmus, dazu kommt der Rhythmus von Steuerzentren im Herzen selbst, schließlich Zellgruppen, die den Blutdruck oder die chemische Zusammensetzung des Blutes messen und schließlich als höchste Steuereinheit das Hirn, dass außerhalb der Stressreaktion während jeder Ausatmung den Herzrhythmus besänftigend dämpft (Respiratorische Sinusarrhythmie).

Der Puls eines Gesunden ist daher, wenn er graphisch dargestellt wird, keine starre Folge von Ausschlägen in der gleichen Größe und exakt gleichem Abstand, sondern eher eine wellenartig in sich fluktuierende Kurve, die sich in bestimmten Grenzen bewegt („boundary conditions“). Patienten bei denen tatsächlich ein starrer „Wasserhammerpuls“ oder auch nur ein weniger fluktuierender Puls als bei Gesunden festgestellt wird, sind stärker gefährdet, einen plötzlichen Herztod zu erleiden. Eine Theorie führt das gesunde Fluktuieren des Herzrhythmus auf eine „anpassungsbedingte Fähigkeit zur Selbstorganisation der Nervenfasern“ des Herzens zurück. Mit anderen Worten: fallen bestimmte Nervenfasern dauerhaft oder vorübergehend für die Weiterleitung der elektrischen Erregung innerhalb des Herzmuskels aus, so wird diese Aufgabe beim gesunden Herzen von anderen Nervenfasern übernommen (His-Purkinje Nervenfaser-System, Prinzip: viele Wege führen nach Rom). Ist das Netz der His-Purkinje Nervenfasern funktionell beeinträchtigt, stehen entsprechend weniger Nervenfasern zur Verfügung, die im Notfall einspringen können, die Folge ist ein wenig fluktuierender „starrer“ Puls mit dem Risiko, dass die Nervenimpulse bereits bei leichteren Störungen gar nicht mehr weitergeleitet werden (plötzlicher Herzstillstand) oder dem Risiko, dass es zu gefährlichen „Kurzschlüsse“ zwischen den Nervenfasern kommt, mit der Folge von Herzrhythmusstörungen (bis hin zu Kammerflattern oder -flimmern). (Chaves 2008)

Wenn das Herz so regelmäßig wird wie das Klopfen eines Spechtes oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben. (Wang Shu-he, Mai Jing - The Pulse Classic, 3. Jhh. n.Chr.)

Unterschiede zwischen "schlechter und "guter Varianz“
„Viele Wege führen nach Rom“ ist ein Sprichwort an dem sich wunderbar der Unterschied zwischen schlechter und guter Varianz veranschaulichen lässt. Nehmen wir an, nur ein einziger Weg führte über tausende Kilometer nach Rom. Überschwemmungen, Steinschläge, Sandverwehungen, umgestürzte Bäume auf der Strecke könnten die Reise schnell zum Erliegen bringen. Zu erwarten wäre, dass die Reisezeit mit einer großen Varianz behaftet wäre. Reiter, die zufällig mit keinem Hindernis konfrontiert wären, würden vergleichsweise schnell ankommen, andere, wenn sich die Hindernisse entlang des Weges häufen, vielleicht überhaupt nicht. So wäre ein Weltreich nicht zu „managen“ gewesen. Stattdessen führen aber viele Wege nach Rom, das heißt, wenn ein Weg gerade unpassierbar ist, stehen noch genug Alternativrouten zur Verfügung. Je mehr Wege, sprich Alternativrouten, existieren, umso mehr nähert sich die Reisedauer der einzelnen Reiter aneinander an. Das heißt, die schlechte Varianz (z.B. Schwankung der Reisedauer in Tagen) verringert sich.

Gute „Varianz“ drückt sich aus in der Anzahl der geeigneten Möglichkeiten (Wege), auf denen ein Ziel (Stellwert in der Regeltechnik) erreicht werden kann. In der Literatur findet sich keine einheitliche Bezeichnung für diese Art von „Varianz“. Näherungsweise kann von Grad der Komplexität eines Systems, oder vom Grad der Vernetzung, bzw. der Größe der Negentropie (negative Entropie, negative Unordnung) oder „Degrees of freedom“ eines Systems gesprochen werden. Das Ergebnis einer Steigerung der „guten Varianz“ lässt sich bei gleichzeitiger Verringerung der „schlechten Varianz“ zusätzlich steigern, während eine begleitende Zunahme der „schlechten Varianz“ den positiven Effekt einer Vergrößerung der „guten Varianz“ zunichte machen kann.

In Anbetracht der Tatsache, dass es KEINE geläufige Definition für die „gute Varianz“ gibt (anders als für die „schlechte Varianz“, die mit Var(X)=E((X-µ)hoch2) klar quantifiziert werden kann), ist es frappierend wie leicht wir intuitiv Beispiele für diese undefinierte Entität finden können:

„Viele Jäger sind des Hasen Tod“. Das Gegenbeispiel „Viele Köche verderben den Brei“ stimmt nicht, sofern in der Kommunikation der Köche miteinander und in den Prozessabläufen der Küche die „schlechte Varianz“ gering gehalten wird.

Je mehr gute Schachzüge, bzw. günstige Stellungen, ein Großmeister in seinem Gedächtnis gespeichert hat (Zunahme „gute Varianz“) und je schneller er sie bei Bedarf aus seinem Gedächtnis abrufen kann (Verringerung der „schlechten Varianz“), um so besser wird er spielen, bzw. um so zuverlässiger seinen Gegner besiegen.

Zusammenspiel zwischen „guter und schlechter Varianz“
Gerade das letztgenannte Beispiel zeigt, dass beide Arten der „Varianz“ oft ineinander greifen. Dies ist ein bekanntes Phänomen in der Physik und der Systemtheorie. In komplexen Systemen finden sich periodische Phasen der Negentropie-Steigerung (sog. „Negentropie-Pumpen“, die den Organisationsgrad im System erhöhen). Phasen der Erweiterung („gute Varianz“ erhöht) werden dann gefolgt von Phasen der Konsolidierung („schlechte Varianz“ verringert). Beispiel: Phasen des Ausbaus eines Streckennetzes können gefolgt werden von einem Abbau derjenigen Strecken, die keine zuverlässigen Gewinne abwerfen. Nach Phasen der Erweiterung müssen in einer nächsten Phase erst einmal geregelte Verhältnisse innerhalb der (erweiterten) Grenzen geschaffen werden. Dieses Prinzip findet sich vielfältig und themenübergreifend und gilt für die Dampfmaschine genau so wie für den Stoffwechsel (z.B. Wechsel zwischen anabolem und katabolem Stoffwechsels eines Muskels) oder den Aufbau internationaler Organisationen.

Fazit
Jeder Mensch ist der Manager mindestens eines komplexen Systems, nämlich des eigenen Lebens.
Messbare, objektive(!) Erweiterung von Handlungsspielräumen und Erschließen neuer Bereiche in Verbindung mit der Pflege und messbaren(!), effektiven Nutzung dessen, was wir bereits besitzen, kann bei der Navigation durch eine komplexe, sich ständig ändernde Welt sehr nützlich sein.

 

Das Harte und Starre begleitet den Tod. Das Weiche und Schwache begleitet das Leben.

Laotse

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Literatur


 

MG, HEF, 09.10.2018



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