Fachinformationen - Kommunikation: Kinetose, Angst, Vagusreaktion, 2008


Kinetose und Panikreaktion

Kinetose (Bewegungskrankheit, Reisekrankheit)

Der Auslöser für die Bewegungskrankheit ist eine Missempfindung zwischen den Sinneseindrücken der Augen und dem Gleichgewichtsorgan, die sich widersprechend Bewegung und Ruhe gleichzeitig signalisieren. Dazu ist es nicht erforderlich, dass Bewegung tatsächlich stattfindet: Übelkeit kann ebenso durch visuelle Reize in einer Sternwarte oder einem Kino ausgelöst werden. Zwischen den Sinnesorganen, ihrer emotionalen Einfärbung und Verarbeitung, dem Stammhirn und den Nervengeflechten des Magendarmtraktes bestehen komplexe Regelkreise, die leicht gestört werden können [1,2,3]. In der ersten Phase der Nausea führen widerstreitende Empfindungen zu einer Dämpfung parasympathischer Neurone und einer Aktivierung der sympathischen Reaktion mit den Symptomen:

Vasopressin, Acetylcholin und Cortisol werden vermehrt ausgeschüttet und eine gastrische Tachyarrhythmie verhindert die Magenentleerung in physiologischer Richtung. Früher oder später erfolgt dann ein plötzlicher Zusammenbruch der sympathischen und ein erneuter Anstieg der parasympathischen Aktivierung, die zusammen mit lokalen Reflexmustern die Expulsion des Magen- oder des Darminhaltes ('autonomic gastro-intestinal cascade’) und ggf. Bewusstlosigkeit auslösen.

Verschlimmert wird die Kinetose durch:

Bei der Therapie der Bewegungskrankheit fällt auf, dass Placebos hervorragend wirken, insbesondere wenn sie mit
Überzeugung und Heilungsaussicht verabreicht werden. Medikamente, die bei Chemotherapie-verursachter Übelkeit erfolgreich eingesetzt werden, bieten gegenüber Placebos keine Vorteile. Wirksamer als Placebos sind dagegen:

Autonomes Nervensystem
Woran liegt es, dass Placebo und Zuwendung bei der Linderung der Bewegungskrankheit eine so herausragende Rolle spielen? Der Schlüssel zur Antwort liegt in der Funktionsweise des autonomen Nervensystems, das seit einem Jahrzehnt genauer untersucht wird. Das autonome System hat die Aufgabe, die inneren Organe den jeweiligen Gegebenheiten der Lebenssituation anzupassen. Es tonisiert, aktiviert oder inaktiviert die viszeralen Organfunktionen. Jüngere, 'höhere" Gehirnzentren sind für seine Funktionsfähigkeit nicht unbedingt erforderlich, es kann jedoch von dort in Grenzen beeinflusst werden. Z.B. wenn die Atmung, der Anspannungsgrad der Magenmuskulatur oder der Herzfrequenz (vorübergehend) 'ins Bewusstsein geholt werden’.

Die Funktionen des autonomen Nervensystems werden zunehmend besser verstanden. Die traditionelle Auffassung,
die dem Sympathikus eine antagonistische, parasympathische Reaktion eines einheitlichen N. vagus gegenüberstellte, konnte die geschilderten Phänomene nicht erklären. Daher rückten die Funktionszusammenhänge, die Beziehungen verschiedener Hirnnervenkerne und das Zusammenspiel des autonomen Nervensystemes mit den Botenstoffen des Hypothalamus und den vegetativen Zielorganen in das Zentrum der Aufmerksamkeit.

1995 wurden die bisherigen Forschungsergebnisse zu einem neuen Verständnismodell zusammengefasst, der so genannten 'Polyvagalen Theorie’ [4,5]. Nach ihr werden im Wesentlichen zwei unterschiedliche Reaktionsmuster durch Nervenzellen vermittelt, deren Axone gemeinsam durch den N. vagus laufen. Diese Differenzierung könnte den evolutionären Schritt von Reptilien zu Säugetieren erklären.

Phylogenese
Die Gehirne der frühen Wirbeltiere entsprachen etwa dem Hirnstamm der Säugetiere mit reflektiv gesteuerten, relativ robusten Neuralkreisläufen. Sie waren wenig abhängig von einer konstanten Sauerstoff- und Nährstoffsättigung des Blutes und benötigten daher nur ein sehr einfaches autonomes Nervensystem. Die größeren Gehirne der Säugetiere ermöglichten es, Emotionen und Kernbewusstsein als Mittel sozialer Interaktion einzusetzen. Ohne emotionales Kontaktverhalten wäre die Aufzucht Neugeborener durch das Säugen und Wärmen nicht möglich. Die Fähigkeit, Affekte auszudrücken und soziale Bindungen einzugehen, wurde bei den Säugetieren mit der Notwendigkeit erkauft, für eine gleichmäßige Versorgung des Gehirns mit Nährstoffen zu sorgen. Dieser Funktion dient ein neues differenzierteres autonomes Nervensystem: Es reguliert den Zustand der Eingeweide und der Blutgefäße so, dass bei Säugtieren letztlich ein stabiles soziales Verhalten möglich wird, d.h. die Fähigkeit zur Kommunikation von Emotionen. Besonders wichtig ist dabei die Regulierung der Herz- und Atemfrequenz. Diese erfolgt bei Wirbellosen noch endokrin, also sehr langsam und auch bei Reptilien und Fische mit nicht-myelinisierte Fasern immer noch nicht sehr schnell. Säugetiere müssen ihre Umwelt ständig daraufhin untersuchen, ob Gefahr oder Sicherheit besteht, um im zweiten Fall die sympathische Reaktion zu dämpfen. Dazu wird die Herzsteuerung, an der zahlreiche Regelkreise beteiligt sind, bei Säugetieren über myelinisierte (schnelle) Fasern aus dem Stammhirn beeinflusst.

Bei primitiven Wirbeltieren sind die Fasern des Vagus nicht von einem Myelinmantel umgeben. Bei Säugetieren erfolgt dagegen unter dem Ein-fluss sozialen Lernens in den ersten Lebenstagen und -monaten eine Myelinisierung bestimmter efferenter (absteigender) Bahnen, während andere, die aus dem dorsalen Vaguskern entspringen, unmyelinisiert bleiben. Myelinisierte und nicht myelinisierte Vagusfasern können an gleichen Zielorganen unterschiedliche Reaktionen auslösen und bei jeweils anderen adaptiven Verhaltensweisen beteiligt sein.

Der vordere Vaguskern (Nucleus ambiguus), aus dem die myelinisierten Fasern entspringen, gehört entwicklungsgeschichtlich zu den Kiemenbogennerven (N. trigeminus, N. facialis, N. glossphayngeus, N. accessorius). Diesen Nerven obliegt die Kontrolle miteinander koordinierter motorischer, sensorischer und viszeraler Funktionen, die im Wesentlichen folgende Zielorgane betreffen: Herz, Bronchien, Thymus, Pharynx, Larynx, Kopf- und Halsmuskulatur. Weitere enge Beziehungen der Koordination bestehen mit phylogenetisch älteren Nerven wie N. vestibulocholearis (Gleichgewicht), N. hypoglossus (Zunge) und dem dorsalen Motornukleus des N. vagus. Die Aufgabe der Kiemenbogennerven ist die Sicherung einer sozialen Einstellung zur Umwelt: Kauen, Saugen, gemeinsam Fressen, Kommunikations-Zentrierung auf Artgenossen durch Geräuschfilter im Mittel-Ohr, Gesichtsfunktion und Mimik (Emotionsvermittlung, Kommunizieren), Stimmgebung (Kehlkopf, Rachen), ruhige Aufmerksamkeit und Zuwendung (Augenlid-Offnen, Kopfdrehung), Beruhigung (Bremsfunktion der Herzfrequenz).

Panik
Das Modell der z.Z. untersuchten 'Polyvagal-Theorie’ postuliert drei Reaktionsmuster, die einer unterschiedlichen Verhaltensweise entsprechen. Die dazugehörigen neuronalen Regelkreise sind hierarchisch organisiert, so dass sie nacheinander ablaufen, wobei die jüngere Reaktionsform das jeweils ältere ('tiefere') Muster blockiert:

Säugetiere besitzen demnach ein auf den sozialen Kontakt ausgerichtetes inneres System, dass sich aus autonomen
und somatischen Anteilen zusammensetzt. Der myelinisierte, dämpfende, beruhigende Vagus wird durch Impulse
höherer motorischer Gehirnzentren (Cortex, Zwischenhirn, Basalganglien, Formatio retikularis) kontrolliert.

Direkten Einfluss auf diese vagale Reaktion haben Impulse von Hirnnervenkernen, welche die soziale Interaktion vermitteln (Kiemenbogennerven). Für die Spiegelung der eigenen Emotionalität ist der Gesichtsausdruck (VII, VIII) wichtig. Die Aktivierung der Mittelohrmuskeln (M. stapedius VII, M. Tensor tympani VIII) dämpft niederfrequente Hintergrundgeräusche, um so die höherfrequente Töne der Vokalisierung und Stimmgebung deutlicher hervorzuheben. Mit dieser phylogenetischen Neuerung war es Säugetieren möglich, in Frequenzbändern zu kommunizieren, die von Reptilien nicht erreicht werden konnten. Weiter tonisierend auf den jüngeren Vaguskern wirken Geruch (I), Betätigung der Kaumuskeln, Rachen- und Kehlkopfmuskeln, sanfte Kopfdrehung, Öffnen der Augenlider und ruhige Bewegung der Augenmuskeln. Sozialer Kontakt erfordert Beruhigung und damit eine Absenkung der Herz- und Atemfrequenz. Beides wird nicht hierarchisch gesteuert, sondern durch sechs bis zehn verschiedene Steuerungseinheiten beeinflusst, deren Impulse jeweils unabhängig auf ein chaotisches, unvorhersagbares und doch harmonisch abgestimmtes Frequenzmuster wirken. Die Analyse der fluktuierenden Herzfrequenz zeigt aber zwei wesentliche Impulsgeber von niedrigerer und höherer Impulsfrequenz. Das dominierende höhere Frequenzmuster wird als Respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) bezeichnet und bewirkt eine Absenkung der Herzfrequenz in der Exspirationsphase. Nach heutigem Stand des Wissens wird es über die myelinisierten Fasern des Nucleus ambiguus vermittelt, der von einigen Autoren 'Smart Vagus’ genannt wird. Menschen mit hoher RSA-Amplitude erwiesen sich als unempfindlicher sowohl gegenüber Stress als auch der Bewegungskrankheit.

Die therapeutischen Konsequenzen der 'Polyvagalen Theorie’, die z.Z. überprüft werden, beschreiben die Grenzen des Spielraums für soziales Verhalten durch den physiologischen Zustand [6,7,8]. Das bedeutet, dass vor einer Informationsvermittlung (soziale Kommunikation) immer eine Beruhigung, d.h. die Schaffung sicherer stressfreier Zustände stehen muss. Abstrakte Erklärungen sind zur Beeinflussung eines verängstigten Zustandes im Stadium der Symphatikusaktivierung sinnlos. Beruhigung als Dämpfung des Hirnstammsystems kann durch nonverbale Kommunikation oder durch Aktivierung der Hirnnervenreaktion und durch Atmungs- und Entspannungstechniken erreicht werden: Insbesondere mit Übungen aus dem Yoga und Qi Gong u.a., die die Atmung regulieren.

Relevanz für Hochleistungssportarten (Tauchen, Sportsegeln, Drachenfliegen, ...)
Aus den geschilderten Forschungsergebnissen lassen sich für die Tauchmedizin folgende Hypothesen ableiten:

Weiter

Literatur

  1. Golding JF: Motion sickness susceptibility. Autonomie Neuroscience: Basic and Clinical 2006; 129:67-76
  2. Grundy D: Nausea and vomiting - an interdisciplinary approach. Autonomie Neuroscience: Basic and Clinical 2006;129:1-2
  3. Lewis M, Hitchcock DFA, Sullivan MW: Physiological reactivity to learning and frustration. Infancy 2004;6(1):121-143
  4. Movius HL Allen JJB: Cardiac vagal tone, defensive-ness and motivational style. Biological Psychology 2005;68:147-162
  5. Muth ER: Motion and space sickness: Intestinal and autonomic correlates. Autonomie Neuroscience: Basic and Clinical 2006; 129:58-66
  6. Muth ER et al: High dose ondansetron for reducing motion sickness in highly susceptible subjects. Aviation, Space and Environ Med, 2007;(78)7:686-692
  7. Otto B, Riepl RL, Klosterhalfen S, Enck P: Endokrine correlates of acute nausea and vomiting. Autonomic Neuroscience: Basic and Clinical 2006;129:17-21
  8. Porges SW: The polyvagal perspective. Biological Psychology 2007;74:116-143
  9. Porges SW: Love: an emergent property of the mammalian autonomic System. Psychoneuroendocrinology 1998;(23)8:837-861
  10. Porges SW: Social engagement and attachment: a phylogenetic perspective. Ann NY Acad Sei 2003; 1008:31-47
  11. Sanger JG, Andrews PLR: Treatment of nausea and vomiting: Gaps in our knowledge, Review. Autonomic Neuroscience: Basic and Clinical 2006;129:3-19
  12. Unbehaun A: Die vegetative Kontrolle der Herzfrequenz und ihre Koordination mit dem respiratorischen System Dissertation 1999, Humboldt Univ Berlin http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/medizin/unbehaunaxel/htm

 

RMZ, 29.12.2011



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