Borreliose: Wie zuverlässig ist die Antikörperdiagnostik?
Die Borreliose ist die häufigste durch Zecken übertragene Erkrankung innerhalb unserer Klimazone (gemäßigtes Klima, zwischen 45° und 66,5° nördlicher Breite). Das Krankheitsbild ist vielschichtig. Jedes Organ, das Nervensystem, die Gelenke sowie das Gewebe können befallen werden. Nach Untersuchungen der Technikerkrankenkasse (TKK) kam es 2009 in Deutschland zu nahezu 800.000 Neuerkrankungen, davon allein über 170.000 in Bayern.
Wird eine Person von einer befallenen Zecke gestochen, so dringt der Erreger mit deutlicher Verzögerung in den Körper ein, meist erst, wenn die Zecke bereits mehrere Stunden saugt. Gelangen Borrelien ins Blut, so reagiert das Immunsystem, unter anderem mit der Bildung von Antikörpern. Antikörper lassen sich durch Laboruntersuchungen (sog. ELISAs und Western Blots) nachweisen. Solche Antikörpertests werden häufig durchgeführt. Patienten, die mit nicht-spezifischen Symptomen wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen ihren Arzt aufsuchen, werden oft auf Borrelien-Antikörper getestet. Hier macht es keinen großen Unterschied, ob wir zum Allgemeinmediziner oder Spezialisten gehen. In den USA wird diese Laboruntersuchung etwa 2,7 Mio. mal im Jahr angefordert, allein in großen Kliniken mitunter häufiger als 70.000 mal jährlich. Das Robert Koch Institut testete zu Studienzwecken das Serum von 12.614 Kindern und Jugendlichen in ganz Deutschland auf Borrelien-IgG-Antikörper. Die Ergebnisse wurden im April 2012 veröffentlich. Bei 442 Personen zeigte der Suchtest sowie ein anschließend durchgeführter Bestätigungstest einen deutlich positiven Befund.
Labortests
Spricht man mit Patienten über Laboruntersuchungen, bemerkt man oft ein weit verbreitetes Missverständnis. Ein Labortest, wird als eine Art letzte Instanz angesehen. Aus psychologischen Gründen ist das verständlich: ein Patient mit einem unklaren Leiden mit vielen Erscheinungen, die keinen Sinn ergeben, sehnt sich danach, das Übel wenigstens benennen zu können, und sei es "idiopathische Neuropathie" (Nervenstörung ungeklärter Ursache). Noch lieber wäre es ihm, wenn es eine Ursache gäbe, die man auch bekämpfen kann. Komplexe Zusammenhänge sind nicht nur vielen Ärzten sondern auch Patienten ein Gräuel.
Ist ein positives Testergebnis der wissenschaftliche Beweis dafür, dass diese oder jene Krankheit vorliegt? Weit gefehlt. Ein Testergebnis drückt nur eine bestimmte Wahrscheinlichkeit aus, mit der eine Erkrankung vorliegen könnte. Und diese Wahrscheinlichkeit, ist oft viel geringer, als die meisten Patienten und auch manche Ärzte annehmen. Für die Zuverlässigkeit des Tests entscheidend ist paradoxerweise, nach welchen Kriterien die untersuchten Patienten ausgewählt wurden.
Existieren bereits mehrere Anhaltspunkte dafür, dass eine bestimmte Krankheit vorliegt, z.B. charakteristische Symptome, auffällige Röntgenbilder, Hinweise in der Krankengeschichte, so kann ein positives Testergebnis das „Puzzlestück“ sein, das zu einem vollständigen Bild noch gefehlt hat. Liegen hingegen sehr unspezifische Krankheitszeichen vor, die bei tausenden von Erkrankungen und sogar bei Gesunden gefunden werden, so hilft innerhalb einer solchen Patientengruppe ein positives Testergebnis nicht viel weiter. Denn selbst ein gutes Testverfahren wird zu einem bestimmten Prozentsatz immer auch falsch positive Ergebnisse liefern, also einigen völlig Gesunden fälschlicherweise die Krankheit „andichten“. Im Falle der Borreliose gilt, wenn nicht mindestens 20% Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine Borreliose vorliegt, so übersteigt die Zahl der falsch positiv getesteten Gesunden die Zahl der nachgewiesenen echten Fälle. Bei bestimmten Fragestellungen können neben den klassischen serologischen Antikörpertests ergänzende Labormethoden wie Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit, Direktnachweis des Erregers mittels PCR-Technik oder kulturelle Erregeranzucht zur Anwendung kommen, die in ihrer Aussagekraft jedoch ebenfalls Beschränkungen unterliegen.
Einschätzung der Situation
Die Nagelprobe, ob ein Test in einer bestimmten Personengruppe etwas taugt oder nicht, liefert die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Testergebnis mit der Realität übereinstimmt (der "positive prädiktive Wert").
Wie viel Prozent der positiv Getesteten sind tatsächlich krank?
Dieser Frage sind aktuell András Lakos und Kollegen in Ungarn nachgegangen. Grundlage ist die Häufigkeit der Borreliose in dem betreffenden Risikogebiet. Durchschnittlich liegt die Häufigkeit der Borreliose bei 30 Erkrankungsfällen auf 100.000 Einwohner im Jahr. Die große Zahl durchgeführter Tests bei Personen mit geringem Borreliose-Risiko hat die Konsequenz, dass zahlreiche Menschen, nicht an Borreliose, sondern an einer anderen Erkrankung leiden; die Diagnose Borreliose also falsch war.
In den USA liegt mit 2,7 Mio. durchgeführten Tests die Zahl der falschen Borreliosediagnosen (bzw. falsch positiver Testergebnisse) bei etwa 27.000 pro Jahr, liegt also höher als die Zahl der tatsächlichen Erkrankungen. Provokativ könnte man sagen, in den USA werden mehr falsche Borreliose-Diagnosen durch die Ärzte „produziert“ als echte Erkrankungen durch die Zecken. In Europa sieht die Situation nicht viel anders aus. Ein weiteres Problem, stellt die Durchführung von serologischen Tests bei schon bestehenden klaren Krankheitszeichen dar. Tritt eine Wanderröte (Erythema migrans) auf, die von einem Dermatologen als solche erkannt wurde, so gibt es keinen Grund noch Wochen bis zur Therapie verstreichen zu lassen, um das Ergebnis eines Antikörpertests abzuwarten. Antikörper lassen sich mitunter erst etwa sechs Wochen nach dem Zeckenstich nachweisen. Als charakteristische Krankheitszeichen gelten vor allem das Erythema migrans und die Lymphadenosis cutis benigna, hier erübrigt sich der Antikörpertest. Auf der anderen Seite ist ein Test nur wenig sinnvoll bei extrem unspezifischen Beschwerden wie Kopfschmerz, Abgeschlagenheit und uncharakteristischen Muskelschmerzen.
Lakos und Kollegen kamen nach sorgfältiger Auswertung verfügbarer Antikörper-Testsysteme und Berücksichtigung der epidemiologischen Situation, z.B. der tatsächlichen Häufigkeit der Borreliose in Europa, zu folgendem Ergebnis:
Nachtrag
Nehmen wir an, Sie würden unter unklaren Muskelschmerzen und Krankheitsgefühl leiden, sind bereits positiv getestet worden, haben bereits mehrfache Antibiotikabehandlungen erhalten, und dabei sogar eine unspezifische aber nicht vollständige oder dauerhaft anhaltende Besserung Ihrer Beschwerden erfahren, vielleicht haben Sie auch schon viel Geld für die modernsten Borrelien-Tests und -Therapieverfahren ausgegeben, dann sollten Sie sich als Patient vor Augen halten: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Gesundheitsproblem tatsächlich durch eine Borreliose bedingt ist, liegt bei weniger als 9,1 Prozent. Anders formuliert: Ihr Gesundheitsproblem hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine andere Ursache als Sie bis vor Kurzem noch angenommen haben.
Unsere Empfehlung
Quellen
Weiter Artikel
MG, HEF, 21.06.2018